Das
Unglück zu Kalmorsch 1908
Während
der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts war ein starker Anstieg
sowohl des Gewichts als auch der Geschwindigkeit der Schnellzüge
der RSR zu beobachten. Dazu hat die fortdauernde Weiterentwicklung der
Lokomotivkonstruktionen des Chefingenieurs Karel Belčamin wesentlich
beigetragen. Leider hat aber ein Unglück, das sich im Sommer des
Jahres 1908 in Kalmorsch ereignete, bewiesen, daß entsprechende
Verbesserungen der Sicherheitseinrichtungen oder der Kompetenz der
Lokführer nicht stattgefunden hatten.
Die internationalen Schnellzüge, die Ruhnien durchfuhren, erlitten
oft Verspätungen auf dem langen Weg aus ihren weit entfernten
Abfahrtsorten in Osteuropa. Am 2. Juli war dies auch das Schicksal des
Schlafwagenschnellzuges NE51 von Warschau nach Rom, der mit mehr als
einer Stunde Verspätung nach Abschluß der
Grenzübergangsabwicklung in Parwesche abfuhr. Wie damals normal
bei internationalen D-Zügen sah der Fahrplan einen Halt innerhalb
von Ruhnien nur in Bewitz und Kropplenburg vor. Die kurzen Entfernungen
zwischen Haltebahnhöfen haben keine große Gelegenheit
geliefert, verlorene Zeit wieder einzuholen, so daß bis nach
Bewitz lediglich sieben Minuten aufgeholt worden waren. Ein
gekürzter Bahnhofsaufenthalt, der gerade reichte, um die
Lokomotiven zu wechseln, sparte (sehr zum Ärger mancher
Fahrgäste, denen so gut wie befohlen wurde, sich beim Ein- und
Aussteigen zu beeilen) weitere fünf Minuten. Dem aus drei
Schlafwagen, einem Speisewagen und einem Gepäckwagen bestehenden
Zug, der nun von der nagelneuen 2'B-Lok Nr. B15-13 der Belčaminschen
Klasse B15 unter der Besetzung von
Lokführer Blanno Remenute und
Heizer Karron Vahrtie gezogen wurde, gelang eine recht lebhafte
Anfahrt. Remenute trieb seine Lok durch die Kurven zwischen Bewitz
Zentralbahnhof und Bewitz Süd recht hart an und hatte in
Kalmorsch-Amesch eine Geschwindigkeit von geschätzten 55 km/h
erreicht, die die auf der Zufahrtskurve am östlichen Ende des
Bahnhofes Kalmorsch-Tepisch geltende Beschränkung von 45 km/h weit
überschritt. Wie bereits erwähnt, sah der Fahrplan keinen
Halt in Kalmorsch vor und Remenute gab sich sichtbar keine Mühe,
seine Lokomotive zu zügeln, als sie den Bahnhof Tipasch in
Richtung Kalmorsch-Stadion durchdonnerte.
Gerade hier war es, daß das Schicksal seine Hand gegen den
Warschau-Römer Express erhob. Normalerweise wäre der Zug
NE51 von Kalmorsch aus über Flackenau und die RK-Hauptstrecke nach
Kropplenburg geleitet worden aber während der Monate Juni und Juli
hatte sich die RK ein umfangreiches nächtliches
Gleiserneuerungsprogramm vorgenommen, das Umleitungen über die
RSR-Strecke durch Brehl erforderlich machte. Zu spät bemerkte
Lokführer Remenute das grün-gelbe Bild des Ausfahrtssignals
des Bahnhofes Stadion, das auf die nach links abzweigende, mit einem
Tempolimit von 45 km/h belegte Strecke hinwies, so daß er nur
noch Zeit für einen schnellen aber vergeblichen Griff zum
Bremshebel hatte. Lok Nr. B15-13 fuhr mit etwa 80 km/h in die Kurve
hinein
und kippte nach wenigen Sekunden zur rechten Seite weg, ihren Tender
nach sich schleppend und Kohle und Wasser umherstreuend. Die Wagen
häuften sich über Lok und Tender zusammen; zwei von ihnen
schoben sich ineinander (das sogenannte, Schreck erregende
"Teleskopieren"), als sie gegen einen dort wachsenden Eichenbaum
prallten. Letztendlich forderte dieses verheerende Unglück sieben
Todesopfer und etwa zwanzig Verletzte, darunter auch Lokführer
Remenute und Heizer Vahrtie.
Bei der im städtischen Gerichtshof Bewitz abgehaltenen
öffentlichen Untersuchung stand die überhöhte
Geschwindigkeit des Zuges auf der scharfen Kurve nach dem Bahnhof
Kalmorsch-Stadion als Ursache des Unglücks eindeutig fest.
Untersuchungsbeamter Filip Estanoht legte aber mehr Wert darauf, den
Hintergrund der hohen Geschwindigkeit des Zuges zu ermitteln.
Lokführer Remenute sagte als Zeuge, daß er versuchen wollte,
etwas von der 55-Minutigen Verspätung seines Zuges einzuholen und
hatte nichts Außerordentliches bemerkt, als er von Bewitz aus auf
Kalmorsch zufuhr. Die B15-13 habe die erste Kurve "wie ein
Pullman-Wagen" durchfahren. (Wie sich die Fahrt in den folgenden Wagen
angefühlt haben muß, wurde nicht besprochen.) Darüber
hinaus hatte er erwartet, von Kalmorsch aus geradeaus nach Flackenau zu
fahren und wäre dies der Fall gewesen, hätte keine Gefahr
bestanden. Es war allerdings klar, daß weder der Lokführer
noch der Heizer auf die Zufahrtssignale vom Bahnhof Stadion ausreichend
aufgepaßt hatte, sonst wären sie über ihre hinter dem
Bahnhof abzweigende Strecke vorgewarnt gewesen, noch hatten sie sich im
voraus über Umleitungen o.dergl. informiert.
Lokführer Remenute wurde des illegalen Tötens durch
grobfahrlässige Bedienung einer Maschine (so lautete das Gesetzt)
schuldig gesprochen und zu drei Jahren Haft mit Schwerstarbeit
verurteilt. (Er wurde nach sieben Monaten auf Bewährung
entlassen.) Heizer Vahrtie wurde der fahrlässigen Bedienung einer
Maschine schuldig gesprochen und zu neun Monaten Haft verurteilt, wovon
er fünfzehn Wochen verbüßen mußte. Auch die RSR
wurde deswegen kritisiert, daß die Lokomotiven nicht mit
Tachometern ausgestattet waren (ein Dauerthema) und das Personal
über diese neue und viel leistungsfähigere Lokomotivbauart
nicht geschult wurde.
Im Nachhinein ist es schwer vorstellbar, wie ein solches, durch
überhöhte Geschwindigkeit ausgelöstes Unglück
hätte vermieden werden sollen, ohne einen planmäßigen
Halt in Kalmorsch-Tipasch einzurichten. Von dieser Maßnahme nahm
die RSR auch nach dem Unfall Abstand, und zwar mit der Begründung,
daß das wiederholte Anhalten und Anfahren des Zuges die
schlafenden Fahrgäste unnötig stören würde. (Die
Gefahr, im Schlaf von einem Zugunglück überrascht zu werden,
hat anscheinend nicht schwer gewogen.) Genausowenig, wie es aussieht,
wollte man aus der Erfahrung dreier verschiedener englischer
Eisenbahnen lernen, die zwei Jahre früher schwere (und
letztendlich wegen des Todes des Lokpersonals ungeklärte)
Unglücke mit fast identischem Verlauf verzeichnen mußten.
Gerade zu dieser Zeit führte die englische Great Western Railway
auf ihren Hauptstrecken ein automatisches System ein, das das
Lokpersonal mit einem akustischen Warnton aufmerksam machte, falls ein
Vorsignal auf gelb steht. Leider hat diese Einrichtung am Nachteil
gelitten, daß ein Lokführer ein Warnsignal bestätigen
und sofort vergessen konnte. Erst 1930 wurde bei der RK (1932 bei der
RSR) mit der Installation eines Sicherheitssystems nach diesem Prinzip
begonnen.
(c) Norman Clubb 2004